Totalschaden

IMMER WIEDER MITTWOCHS
12.02.2014

Totalschaden

   Mensch fasst sich an den KopfGelegentlich fasst sich der Mensch an den Kopf. Nur nutzt ihm das nicht immer etwas. Außerdem gelangt nicht jede Hand dorthin. Nicht selten ist an diesem Ort die Welt mit Brettern vernagelt. Wer anklopft, dem wird nicht immer aufgetan. Über den Häuptern der Nation öffnen sich auch immer wieder die Schleusen und es gibt kein Entrinnen vor dem medialen Wolkenbruch. Unter dem weiten Mantel der heiligen Informationspflicht stürzt sich das Gewerbe auf jedes Sonderangebot.

   Die steuerlichen Belange von Staat und Gesellschaft sind immer wieder solch ein Glücksfall für die Redaktionen, praktisch die Tütensuppen der Branche. Wasser drauf umrühren und die Mahlzeit ist fertig.  Der perfekte Schnellimbiss für gestresste Köpfe. Keine Sorge, wir wärmen das Thema jetzt nicht wieder auf. Unser Tisch wurde bereits reichlich gedeckt. Kein Blatt hat sich die Chance zum Füllen seiner Seiten entgehen lassen. Erst recht die Sender haben kräftig zugelangt.

   Montag „Hart aber fair“, Donnerstag bei „Maybrit Illner“ und am heiligen Sonntag tritt „Günther Jauch“ noch einmal kräftig nach. Dazwischen online, offline immer die gleiche Parole. Igitt, so etwas tut man nicht, wie kann man nur? Der Inhaber einer Drogeriekette und ehemalige Arbeitgeber einer Bundespräsidentengattin wird zu solchen Events gern eingeladen, weil er fröhlich in die Kamera blickt und über das Mikrophon verkündet, wie gern er doch Steuern zahlt. Hut ab. Da freut sich auf dem Stuhl neben ihm der Finanzminister natürlich sehr. Ein klarer Fall für das Bundesverdienstkreuz.

   Wenn selbst der ADAC schon Totalschaden erleidet, kann das denkende Bürgerhirn gleich mit entsorgt werden, alles in einem Aufwasch. Das könnte das aktuelle Kalkül sein. Plötzlich werden längst totgeglaubte Wahnsinnsirrtümer wieder aufs Brot geschmiert:  ach der Herr Staatssekretär, ein so gebildeter, freundlicher, sachverständiger, erfolgreicher und verdienter Kulturmanager … wie kann man sich denn so täuschen? Sein Chef hat das nüchterner gesehen und sich die Winterferien nicht vermasseln lassen. Steuern sind Steuern und Kultur ist Kultur. Hauptsache im Job flutscht es. Alles andere ist sein Bier. Im Roten Rathaus am Alexanderplatz gibt es offensichtlich Schlimmeres als eine falsche Steuererklärung.

   Wenn jeder freundliche Familienvater immer und überall freundlich wäre, bräuchten wir keine Frauenhäuser. Würden alle, ob einfache Nachbarn oder bekannte Stars ausschließlich nach den zehn Gebote leben, könnten wir uns die Gefängnisse und viel Papier für die vielen Stories sparen. Der Volksmund weiß längst, dass wir keine Engel sind und die Gelegenheit Diebe macht. Lassen wir aber durch Volksweisheiten jetzt nicht von den Kernproblemen ablenken. Kehren wir zurück zu den medialen Irrtümern.

   Wo dort der Schuh drückt findet jeder am besten für sich selbst heraus. Journalistische Recherche kann durchaus eine Hilfe sein. Sie führt aber auch Immer wieder in die Irre. Steuerflüchtlinge werden gejagt und die tatsächlichen Dramen bleiben auf der Strecke. Letzteres geschieht bevorzugt dann, wenn auf Auflage und Quote geschielt wird. Da gerät schnell aus dem Blick, worauf es tatsächlich ankommt oder besser gesagt ankäme, wenn das beschworene Informationsideal zum Wohle der Menschheit tatsächlich immer im Vordergrund stünde.

   Immer wieder im Leben lohnt sich die Frage, wem was nützt. Besonders gut scheinen wir mit der Einschätzung beraten, dass das, was wir vorfinden wenn der Mensch seine Hand im Spiel hat, auch tatsächlich so gewollt ist. Wer sich auf diesen Erkenntnispfad begibt, wird einige Überraschungen erleben und dann eines Tages überhaupt nicht mehr überrascht sein.

  Zum Einstieg und der Hintergrundausleuchtung stehen hier gleich zwei Aufhänger zur Verfügung. Der eine führt locker zu einem hausgemachten Grundproblem des menschlichen Zusammenlebens (1). Der andere ist geeignet, uns  auf tragische Weise vor Augen zu führen, was schon zum Ausdruck gebracht worden ist: von Menschenhand gemacht und so gewollt. Vor diesen Abgründen wird jeder Steuerflüchtling zum kleinen Licht (2).

(1) Gefährlicher als die Mafia
(folgen Sie dem Link)

(2) Das Imperium der Schande

An diesem zweiten Text ist auch das Datum bemerkenswert. Er ist geschrieben worden als Vorwort zu einem weltweiten Bestseller im Jahre 2008. Das „Imperium der Schande“ ist allerdings schon seit 2005 auf dem Markt. Der damalige UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung und auch heute noch unermüdliche Schweizer Soziologe Jean Ziegler ist bekannt, dass er kein Blatt vor den Mund nimmt. In seiner Heimat hat er sich bereits Anfang der neunziger Jahre vor allem mit einem weiteren Bestseller „Die Schweiz wäscht weißer“ extrem unbeliebt gemacht.

   Sogar seine Immunität als Schweizer Nationalrat wurde damals aufgehoben. Die straf- und zivilrechtlichen Auseinandersetzungen mit ihm und seiner pointiert formulierenden Zunge füllen inzwischen Bände. Seit September 2013 ist der engagierte Globalisierungskritiker dennoch mit überragender Mehrheit wieder als Mitglied des UN-Menschenrechtsausschusses eingesetzt worden, gegen den erbitterten Widerstand seiner Gegner. Er lehrte Soziologie in Genf und an der Sorbonne in Paris.

Was hat das alles mit Ihrem Geld zu tun? Sehr viel, warten Sie’s ab.

Im Anschluss an den Text finden Sie ein Video unter anderen mit Jean Ziegler aus dem legendären ZDF-Nachstudio. Das sollten Sie nicht versäumen.


Vorwort zur Taschenbuchausgabe

Originalzitat – GOLDMANN (Aktualisierte Ausgabe)

„Es war eine stockfinstere, mondlose Nacht. Der Wind fegte mit mehr als hundert Stundenkilometern über das Meer. Er peitschte zehn Meter hohe Wellen hoch, die mit einem schrecklichen Tosen auf das leichte Boot herabstürzten. Es war vor zehn Tagen von einer kleinen Bucht an der mauretanischen Küste aufgebrochen, an Bord 101 afrikanische Flüchtlinge.

Wie durch ein Wunder warf der Sturm das Boot gegen ein Riff  am Strand von El Médano, einer kleinen Insel im Archipel der Kanarischen Inseln.

Im Boot fand die spanische Guardia Civil unter den verstörten Überlebenden die Leichen von einer Frau und drei Jugendlichen, die an Hunger und Durst gestorben waren.

In derselben Nacht strandete ein paar Kilometer entfernt auf dem Strand von El Hierro ein alter Kahn: an Bord sechzig Männer, 17 Kinder und sieben Frauen. Sie wankten wie Gespenster am Rand der Agonie und brachen auf dem Sand zusammen.1

Zur selben Zeit spielte sich, diesmal im Mittelmeer, ein anderes Drama ab: 150 Kilometer südlich von Malta entdeckte ein Beobachtungsflugzeug der Organisation Frontex2 ein mit 53 Personen stark überladenes Schlauchboot, das – wahrscheinlich aufgrund einer Motorpanne – auf den Wellen dahintrieb. Die Kameras des Flugzeugs konnten an Bord Frauen und Kleinkinder ausmachen. Der Pilot informierte sofort die maltesischen Behörden.

Diese weigerten sich einzugreifen unter dem Vorwand, dass sich die Flüchtlinge in einer »libyschen Such- und Rettungszone« befanden. Laura Boldini, die Vertreterin des Hochkommissariats für Flüchtlinge der Vereinten Nationen in La Valette, intervenierte und bat die Malteser, ein Schiff  zur Rettung der in Seenot geratenen Menschen auszusenden. Ihr Argument: »Es ist schon vorgekommen, dass Boote bis zu zwanzig Tage im Mittelmeer dahintreiben.«3

Es war nichts zu machen.

Europa rührte keinen Finger.

Man verlor jede Spur von den Flüchtlingen.

Eine Woche davor war ein Boot, das die Kanarischen Inseln zu erreichen versuchte, mit ungefähr hundert afrikanischen Hungerflüchtlingen an Bord auf der Höhe von Senegal im Meer gesunken. Es hatte zwei Überlebende gegeben.4

Am 28. September 2005 hatten spanische Soldaten aus allernächster Nähe fünf junge Afrikaner hingerichtet, die den stromgeladenen und stacheldrahtgekrönten Gitterzaun hochzuklettern versuchten, der die spanische Enklave Ceuta in Marokko umgibt. Acht Tage darauf waren sechs weitere junge Schwarze unter ähnlichen Umständen erschossen worden.5

Tausende Afrikaner, darunter Frauen und Kinder, sammeln sich vor den Gitterzäunen der beiden spanischen »Präsides« von Ceuta und Melilla im trockenen Rif-Gebirge. In regelmäßigen Abständen verwüsten die marokkanischen Soldaten die Flüchtlingslager in den Hügeln über den Enklaven. Sie konfiszieren die dürftige Habe der Afrikaner, brennen die Hütten und Plastikunterstände nieder und prügeln die Hilflosen, zuweilen sogar zu Tode. Die Überlebenden werden in die Sahara zurückgetrieben.

Ohne Wasser und ohne Vorräte.

Hunderte, vielleicht Tausende von ihnen gehen auf den Felsen oder auf dem Wüstensand zugrunde.6

Tag für Tag, Jahr für Jahr wird über Flüchtlingstragödien berichtet, eine Nachricht jagt die andere. Doch noch immer wütet das Meer unter den verzweifelten Menschen.

2007 war ein besonders schlimmes Jahr. Den Angaben des UN-Hochkommissariats für Flüchtlinge zufolge versuchten im Jahr 2007 über 22000 Hungerflüchtlinge aus Somalia, Eritrea und Äthiopien die Meerenge zwischen dem Horn von Afrika und dem Jemen zu überqueren, um später nach Europa zu gelangen. Zwischen der Küste vor Mogadischu und der Bucht von Aden dauert die Überfahrt auf morschen Kähnen zwei Tage und zwei Nächte. Wie viele Menschen starben im Roten Meer – in den Fluten ertrunken, von Haien gefressen, verdurstet auf den überladenen Kähnen? Mehrere tausend Opfer hat es der UNO zufolge im Jahr 2007 allein in der Meerenge von Aden gegeben.

Auch für die über 2000 km lange Passage zwischen der Landzunge von Saint-Louis im Nordsenegal und der kanarischen Inselgruppe sind die Opferzahlen steigend. Im Jahr 2007 ist nach Schätzung der UNO auf der Nordatlantikroute jeder sechste Flüchtling umgekommen.

11. Dezember 2007: Vor Dakhla (Westsahara) kentert ein mit fünfzig Menschen überladener Kahn. Keiner von ihnen überlebt. Zwei Tage später meldet die senegalesische Marine-Polizei die Havarie eines winzigen Fischerbootes mit 130 Illegalen an Bord. 42 von ihnen ertrinken im sturmgepeitschten Atlantik, in Sichtweite des senegalesischen Rettungsschiff es.

Wie viele von Elend, Hunger und Verzweiflung geplagte Afrikaner verlassen alljährlich ihr Land, um unter Lebensgefahr den Versuch zu unternehmen, nach Europa zu gelangen?

Laut der spanischen Regierung sind 47 685 illegale afrikanische Migranten im Jahr 2006 an den spanischen Küsten gelandet. Dazu muss man die 23 151 illegalen Migranten hinzurechnen, die von Libyen oder von Tunesien aus auf italienischen Inseln oder auf Malta gelandet sind. Andere versuchen, über Ägypten, die Türkei und Griechenland die italienische Adriaküste zu erreichen.

Markku Niskala, der Generalsekretär der internationalen Föderation der Gesellschaften des Roten Kreuzes und des Roten Halbmonds, sagt: »Diese Krise wird völlig verschwiegen. Diesen Personen in äußerster Bedrängnis kommt nicht nur niemand zu Hilfe, ja es gibt nicht einmal eine Organisation, die wenigstens Statistiken aufstellen würde, die diese alltägliche Tragödie widerspiegeln.«7

Die Flucht der afrikanischen Hungerflüchtlinge über das Meer wird durch einen besonderen Umstand begünstigt: die rasch voranschreitende Zerstörung der Fischergemeinden an den Atlantik- und Mittelmeerküsten des Kontinents. Diese Zerstörung kommt daher, dass die meist hoch verschuldeten afrikanischen Staaten die Fischereirechte an ausländische Unternehmen verkaufen. Die riesigen Fang- und Verarbeitungsschiff e aus Japan, Kanada, Portugal, Frankreich, Dänemark usw. verwüsten die Hoheitsgewässer. Die ruinierten, in auswegloses Elend gestürzten und machtlosen Fischer verkaufen ihre Boote billig an verbrecherische Menschenhändler oder versuchen sich selbst als Schlepper. Diese Boote, die für die Küstenfischerei in den Hoheitsgewässern gebaut sind, sind nicht hochseetauglich.

Knapp unter einer Milliarde Menschen wohnen in Afrika. Zwischen 1972 und 2002 ist die Zahl der schwerst und dauerhaft unterernährten Afrikaner von 81 auf 203 Millionen angewachsen.

Warum? Es gibt mehrere Gründe für dieses Desaster. Der wichtigste Grund: die Landwirtschaftspolitik der Europäischen Union.

Die Industriestaaten der OECD haben ihren Landwirten und Viehzüchtern im Jahr 2007 mehr als 350 Milliarden Dollar an Subventionen für Produktion und Export ausbezahlt.

Insbesondere die Europäische Union praktiziert in Afrika das Agrar-Dumping. Das führt in erster Linie zur systematischen Zerstörung der afrikanischen Selbstversorgung mit Grundnahrungsmitteln.

Nehmen wir als Beispiel »Sandaga«, den größten Markt für gängige Konsumgüter in Westafrika. Sandaga ist eine lärmende, bunte, duftende, wunderbare Welt mitten in Dakar.

Die Konsumenten können dort je nach Jahreszeit Gemüse und Obst aus Portugal, Frankreich, Spanien, Italien, Griechenland usw. kaufen – und zwar zu einem Drittel oder zur Hälfte des Preises der gleichwertigen einheimischen Produkte.

Einige Kilometer entfernt von hier arbeitet der afrikanische Bauer mit seiner Frau und seinen Kindern bis zu 15 Stunden pro Tag bei glühender Hitze – und hat nicht die geringste Aussicht, dafür ein anständiges Mindesteinkommen zu erhalten.

Von 52 afrikanischen Ländern sind 37 reine Agrarländer.

Wenige Menschen auf der Welt arbeiten so viel und unter so schwierigen Bedingungen wie die afrikanischen Bauern, seien es die Wolof im Senegal, die Bambara in Mali, die Mossi in Burkina Faso oder die Baschi in der kongolesischen Region Kivu.

Die Politik des landwirtschaftlichen Dumpings, die von Europa praktiziert wird, zerstört ihr Leben und das ihrer Kinder.

Der Zynismus der EU-Kommissare in Brüssel ist bodenlos. Sie fabrizieren den Hunger in Afrika und organisieren auf den Meeren die Jagd nach den Hungerflüchtlingen. Sie haben eine halb geheime militärische Organisation auf die Beine gestellt, die den Namen Frontex trägt. Diese Institution ist für die »Verteidigung der Außengrenzen Europas« zuständig. Sie verfügt über schnelle und bewaffnete hochseetaugliche Abfangschiff e, über Kampfhubschrauber, eine Flotte von Überwachungsflugzeugen, die mit hochempfindlichen Nachtsichtkameras ausgestattet sind, über Radaranlagen, Satelliten sowie über hochentwickelte Mittel zur elektronischen Fernüberwachung.

Frontex unterhält auf afrikanischem Boden auch »Auffanglager«, in denen die Hungerflüchtlinge zusammengepfercht sind, die aus dem mittleren, dem westlichen und dem südlichen Afrika kommen, aus Tschad, aus der Demokratischen Republik Kongo, aus Burundi, Kamerun, Eritrea, Malawi, Simbabwe usw.

Oft sind diese Flüchtlinge schon sieben, acht Jahre lang durch den Kontinent unterwegs. Sie schlagen sich mühsam durch, überqueren Grenzen und versuchen, nach und nach näher an eine Küste heranzukommen. Dann werden sie von den Leuten der Frontex oder ihren örtlichen Helfershelfern abgefangen, die den Auftrag haben, sie daran zu hindern, die Häfen am Mittelmeer oder am Atlantik zu erreichen.

Angesichts der beträchtlichen Summen, die Frontex an die afrikanischen Regierungen ausschüttet, lehnen nur wenige die Errichtung solcher Lager ab.

Algerien kommt die Ehrenrettung zu. Präsident Abdelaziz Bouteflika sagt: »Wir lehnen diese Lager ab. Wir werden nie die

Kerkermeister unserer Brüder sein.«

Ich betone: Die Heuchelei der Kommissare in Brüssel ist abscheulich. Einerseits organisieren sie die Hungersnot in Afrika, auf der anderen Seite kriminalisieren sie die Hungerflüchtlinge.

Aminata Traoré fasst die Situation folgendermaßen zusammen: »Die finanziellen und technologischen Mittel, die das Europa der 27 gegen die afrikanischen Migrationsströme einsetzt, sind im Grunde die eines richtiggehenden Krieges zwischen dieser Weltmacht und wehrlosen jungen Afrikanern aus Stadt und Land, deren Recht auf Bildung, wirtschaftliche Information, Arbeit und Nahrung von ihren Herkunftsländern mit Füßen getreten werden. Diese Herkunftsländer sind den Strukturanpassungsprogrammen des Weltwährungsfonds unterworfen. Die Afrikaner sind die Opfer makroökonomischer Entscheidungen und Beschlüsse, für die sie in keiner Weise verantwortlich sind. Sie werden gejagt, gehetzt und gedemütigt, wenn sie versuchen, in der Emigration einen Ausweg zu finden. Die Toten, die Verletzten und Versehrten der blutigen Vorfälle in Ceuta und Melilla im Jahr 2005 wie auch die Tausende lebloser Körper, die allmonatlich an den Stränden Mauretaniens, der Kanarischen Inseln, Lampedusas oder sonst wo stranden, sie sind lauter Schiff brüchige der kriminalisierten Zwangsemigration.«8

Im Juni 2007 trat der Rat für Menschenrechte der Vereinten Nationen zu seiner vierten ordentlichen Tagung in Genf zusammen. Der Rat prüfte den Vorschlag, den Hungerflüchtlingen ein Recht auf befristete Nicht-Abschiebung zu gewähren. Es geht darum, genau zwischen Wirtschaftsflüchtlingen und Hungerflüchtlingen zu unterscheiden. Die Wirtschaftsflüchtlinge migrieren, um ihre Lebensumstände zu verbessern. Die Hungerflüchtlinge fliehen von Not getrieben.

Dieser Notstand ist im internationalen Recht und in den meisten nationalen Rechtssystemen ein wohlbekanntes Konzept.

Ein Beispiel: Der Fahrer eines Rettungswagens, der mit äußerster Geschwindigkeit fährt, um möglichst rasch bei einem Verwundeten einzutreffen, verletzt dabei eine oder mehrere Verkehrsregeln. Aber er handelt »im Notstand«. Seine Nichtbeachtung der Verkehrsregeln wird dadurch für null und nichtig erklärt.

Das Gleiche gilt für den Hungerflüchtling: Das Welternährungsprogramm definiert alle drei Monate die Regionen der Welt, in denen aufgrund von Naturkatastrophen (Dürre, Heuschrecken usw.) oder menschlichen Katastrophen kein Überleben möglich ist.

Der Notstand ist objektiv überprüfbar.

Um zu überleben, muss der Hungernde Grenzen überschreiten. Er tut es illegal. Die Illegalität wird durch den Notstand aufgehoben.

Vorläufig ermöglicht kein Instrument des internationalen Rechts, den Hungerflüchtling zu »entkriminalisieren«. Die Konvention der Vereinten Nationen für den Schutz von Flüchtlingen aus dem Jahr 1951 gewährt das Asylrecht nur den Personen, die aus rassischen, religiösen oder politischen Gründen verfolgt werden. Diese Kriterien sind nicht ausreichend.

Was das UNO-Abkommen für den internationalen Schutz der Migranten betriff t, dessen Anwendung der internationalen Arbeitsorganisation (und nicht dem Hochkommissar der UNO für Flüchtlinge) obliegt, so gestattet es keine ihrer Bestimmungen, die Hungerflüchtlinge zu entkriminalisieren.

Die einzige Instanz, die gesetzgeberisch handeln kann, ist der Rat für Menschenrechte der Vereinten Nationen, bestehend aus 47 Mitgliedsstaaten, die von der Generalversammlung in New York im Verhältnis zu den Kontinenten für eine (verlängerbare) Dauer von drei Jahren gewählt werden.

Es ist Montag, der 11. Juni 2007, im Genfer Völkerbund-Palast. Die Abendsonne wirft ihre letzten Strahlen auf den schneebedeckten Gipfel des Mont Blanc jenseits des Sees. Die Luft ist drückend und heiß, trotz der späten Stunde. Über dem See zieht ein Gewitter herauf. Im Westen, hinter dem Jura, versinkt die rote Sonne zwischen schwarzen Wolken.

Der Saal XXII ist überfüllt. Diplomaten, Journalisten, Vertreter der Nichtregierungsorganisationen und UNO-Bürokraten besetzen die Plätze. Auf der Tagesordnung des Menschenrechtsrates steht der Vorschlag zur Schaffung eines temporären Asylrechts für Hungerflüchtlinge. Im Namen der Europäischen Union lehnt die deutsche Diplomatin Anke Konrad den Vorschlag ab.9 Im Imperium der Schande, das von der organisierten Knappheit regiert wird, ist der Krieg nicht mehr vorübergehend, sondern permanent. Er ist nicht mehr eine Krise oder eine Pathologie, sondern der Normalfall. Er ist nicht mehr die »Verfinsterung der Vernunft« – wie Horkheimer/Adorno es in der Dialektik der Aufklärung analysierten –, sondern der eigentliche Daseinsgrund des Imperiums. Die Herren des Wirtschaftskrieges plündern systematisch den Planeten. Sie attackieren die normative Macht der Staaten, sie zerstören die Volkssouveränität, untergraben die Demokratie, verheeren die Natur und vernichten die Menschen und deren Freiheit. Die Naturalisierung der Ökonomie, die »unsichtbare Hand des Marktes« ist ihre Kosmogonie, die Profitmaximierung ihre Praxis.

Ich bezeichne diese Kosmogonie und diese Praxis als strukturelle Gewalt.

Die Verschuldung und der Hunger sind die zwei Massenvernichtungswaffen, die von den Herren der Welt eingesetzt werden, um die Völker, ihre Arbeitskraft, ihre Rohstoff e und ihre Träume zu versklaven.

Von den 192 Staaten des Planeten liegen 122 in der südlichen Hemisphäre. Ihre Auslandsschuld beläuft sich insgesamt auf mehr als 2100 Milliarden Dollar.

Die Außenschuld wirkt wie eine Würgschraube. Der Großteil der Devisen, die ein Land der Dritten Welt durch seine Exporte verdient, dient dazu, die Amortisationstranchen und die Zinsen der Schuld zu bezahlen.

Die Gläubigerbanken des Nordens handeln wie Vampire.

Das Schuldnerland wird ausgeblutet.

Die Schuld verhindert jede konsequente gesellschaftliche Investition in die Bewässerung, die Straßen-, Schul- und Gesundheitsinfrastruktur, und erst recht in einen Industriesektor, welchen auch immer.

Das tägliche Massaker des Hungers geht in eiskalter Normalität weiter. Alle fünf Sekunden stirbt ein Kind unter zehn Jahren an Hunger. Alle vier Minuten erblindet jemand aufgrund von Vitamin A-Mangel.

Im Jahr 2007 waren 856 Millionen Menschen – jeder sechste auf unserem Planeten – schwer und dauerhaft unterernährt. Im Jahr 2005 waren es noch 842 Millionen.

Der World Food Report der FAO, der diese Zahlen angibt, versichert, dass die weltweite Landwirtschaft im derzeitigen Entwicklungsstand ihrer Produktivkräfte normalerweise (das heißt mit 2700 Kalorien pro Tag und pro Erwachsenem) 12 Milliarden Menschen ernähren könnte.

Wir sind heute 6,6 Milliarden Menschen auf dieser Erde.

Konklusion: Es gibt kein unabänderliches Schicksal. Ein Kind, das an Hunger stirbt, wird ermordet.

Die wirtschaftliche, soziale und politische Weltordnung, die vom Raubtierkapitalismus errichtet wurde, ist nicht nur mörderisch. Sie ist auch absurd.

Sie tötet, aber sie tötet ohne Notwendigkeit.

Sie muss radikal bekämpft werden.

Mein Buch will für diesen Kampf eine Waffe sein.

Wo ist Hoffnung?

In der Weigerung des Menschen, eine Welt zu akzeptieren, in der das Elend, die Verzweiflung, die Ausbeutung und der Hunger einer Vielzahl den relativen Wohlstand einer gewöhnlich weißen Minderheit gewährleistet.

Der moralische Imperativ lebt in jedem von uns.

Es geht darum, ihn zu wecken, den Widerstand zu mobilisieren und den Kampf zu organisieren.

Ich bin der andere, der andere ist ich. Die Unmenschlichkeit, die einem anderen angetan wird, zerstört die Menschlichkeit in mir.

Karl Marx: »Der Revolutionär muss imstande sein, das Gras wachsen zu hören.«

Vom 5. bis zum 7. Juni 2007 hat im Seebad Heiligendamm an der Ostsee das Treff en der Staats- und Regierungschefs der acht mächtigsten Staaten des Planeten stattgefunden.

 Ein riesiges Metallnetz in der Ostsee, eine Mauer, Stacheldraht über zwölf Kilometer, Kampfschwimmer, ein US-Kriegsschiff, schwarze Apache-Hubschrauber, 16 000 Polizisten, Elitetruppen und Scharfschützen auf allen Dächern in allen Nachbardörfern mussten die Staats- und Regierungschefs schützen.

5000 Journalisten aus der ganzen Welt, die in dem Nachbarort Kühlungsborn zusammengepfercht waren, berichteten über das Ereignis.

In Heiligendamm haben Wladimir Putin, Angela Merkel, George W. Bush und Nicolas Sarkozy und ihre Kollegen versucht, als die Herren der Welt aufzutreten.

Ein rührender Versuch, der ans Lächerliche grenzt, sind doch die meisten unter ihnen – selbst wenn sie demokratisch gewählt sind – nichts anderes als Söldner der real herrschenden Konzerne. Im Jahr 2007 haben die 500 mächtigsten transkontinentalen Privatgesellschaften mehr als 53% des Weltbruttosozialprodukts kontrolliert, das heißt aller Reichtümer (Kapital, Dienstleistungen, Waren, Patente usw.), die in einem Jahr auf dem Planeten geschaffen werden.

Afrika stand im Mittelpunkt der Debatten.

Die zwei wichtigsten Punkte der Tagesordnung betrafen zum einen die »Garantie für Privatinvestitionen« und zum andern die »Universalität des Patentschutzes«. Das Wort »Hunger« kam auf der Agenda von Heiligendamm nicht vor. 

Jenseits der Mauer erstreckten sich, so weit das Auge reichte, über das sandige Mecklenburger Land verstreut, die Zelte und die improvisierten Unterstände der Gegner des G8-Gipfels.

Wir waren mehr als 150 000 Menschen und vertraten soziale Bewegungen, Kirchen und Gewerkschaften aus 41 Ländern. Während des ganzen Gipfeltreffens wurden 120 Workshops, Podiumsdiskussionen und Mahnwachen veranstaltet. In ihnen ging es um die Auslandsschuld, die Hungerflüchtlinge, das Recht auf Trinkwasser, die Auslagerung von Unternehmen, die Lohndiskriminierung von Frauen, die Unabhängigkeit der Zentralbanken, die ungesunden Wohnbedingungen, die einseitige wirtschaftliche Abrüstung der Länder der Dritten Welt, den Terrorismus, die Welthandelsorganisation, die Zwangsprivatisierung öffentlicher Sektoren.


Victor Hugo: »Ihr wollt Beistand für die Armen
– ich will die Abschaffung des Elends.«

Ein neues kollektives Bewusstsein, eine mysteriöse Bruderschaft der Nacht, eine Vielzahl lokaler Widerstandsfronten (deren Koordination noch aussteht) sind im Entstehen begriff en.

Die planetarische Zivilgesellschaft ist das neue historische Subjekt.

Der Ausgang des Kampfes ist ungewiss.

Eine Gewissheit jedoch gibt es: Pablo Neruda erwähnt sie am Ende des Canto General:

»Podrán cortar todas las flores, pero jamás detendran la primavera.«10

(Sie [unsere Feinde] können alle Blumen abschneiden, aber nie werden sie den Frühling beherrschen.)

Jean Ziegler,

Genf, April 2008 


Video:
Was bringt uns die Zukunft?

(Das ZDF-Nachtstudio mit der Reihe „Strategien der Weltverbesserer“ wurde 2012 nach 15 Jahren eingestellt. Der Moderator ist nach 35 Dienstjahren in den Ruhestand gegangen).



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